Gedanken gehen auf Reisen

SZ / BZ

Erschienen am Mittwoch, 2. November 2016

Anlass: I - eine Tanzlesung 29.10.2016

Sindelfingen: Erste Tanzlesung im Kulturpavillon mit Verena Wilhelm als vielschichtige Kunsterfahrung
Von unserem Mitarbeiter Thomas Volkmann

Das Gastspiel des Stuttgarter Tanztheaters Katja Erdmann-Rajski im Sindelfinger Kulturpavillon hat modernen Tanz, Literaturlesung, klassische Musik und Elektrosounds sowie Wort- und Zeichenprojektionen zu einer vielschichtigen Performance verrührt. Ausgangspunkt waren Texte von Herta Müller und Goethe. Dies alles zusammen zu denken hat nicht zuletzt auch das Publikum gefordert.

Es ist deshalb ein feiner Zug, am Einlass mit einem Programmheft ausgestattet zu werden. Katja Erdmann-Rajski hat für ihre mit dem Großbuchstaben „I“ betitelte Tanzlesung Herta Müllers Protagonistin Irene aus „Reisende auf einem Bein“ und Goethes „Iphigenie auf Tauris“ herangezogen. Beide Frauen hat es ins Exil verschlagen, in welchem sie letzten Endes auch sich selbst fremd bleiben. An die Heimat erinnert nur der Inhalt eines Koffers.

Als Tänzerin schlüpft Verena Wilhelm in die beiden I’s. Im gemusterten Kleid und zunächst in Schnürstiefeln ist sie die aus politischen Gründen geflüchtete Irene, in der blütenweißen Stoffhose die religiös verfolgte Iphigenie. Ein alter Reisekoffer steht links vor der Bühne, im letzten Drittel der Performance wird sich die Tänzerin in den mitgenommenen Kleidungsstücken wälzen und auch einige Schichten überziehen. Strohhut und Handschuhe mögen Erinnerungen an Vertrautes wecken.

Verena Wilhelm bewegt sich zu Beginn wie eine Puppe, ihre Bewegungen sind ungelenk, so als müssten eingerostete Gelenke erst wieder geschmeidig gemacht werden. Bald dreht und hüpft sie dann aber schon so ausgelassen wie in der Disco. Weder die opernhafte Musik von Willibald Gluck noch die minimalistischen Elektroklangwelten Matthias Ockerts, dessen Sounds aktuell auch Teil von Rosalies Schauwerk-Installation „Lichtwirbel“ in Sindelfingen sind, passen im harmonischen Sinne dazu.

Die somit auch auf dieser Ebene stattfindende Irritation aber ist Programm, geht es doch auf der Rezeptionsebene für das Publikum darum, sich zurechtzufinden in dieser doch recht abstrakten Welt aus Tanz, Sprache und Bildprojektion.

Ulrike Goetz liest immer wieder Passagen von Müllers und Goethes Texten, bringt die zerbrechliche Prosa der Schriftstellerin und die klassische Verssprache des Dichters in einen Dialog, dessen Fragmente unmerklich ineinander übergehen. Von einem Flohmarkt, auf dem sich „Armut tarnt als Geschäft“ ist einmal die Rede. Zusätzlich werden Aussagen und Zitate mit dem Beamer auf zwei versetzt in der Bühnenmitte aufgehängte transparente Leinwände geworfen.

Um den Tod geht es da immer wieder, um Heimweh und Wehmut, was auf der Leinwand als Buchstabenquadrat bestehend aus Heim, Weh und Mut erscheint und sprichwörtlich Risse bekommt, als die für das Publikum im Hintergrund agierende Anja Abele die live auf Papier gezeichneten Worte zerreißt und durcheinander purzeln lässt. Verena Wilhelm fuchtelt parallel dazu mit ihren Händen um ihren Kopf, um das Umherschwirren von Gedanken, die kommen und gehen, zu versinnbildlichen.

Für den Gedanken, in der Fremde eine neue Identität zu finden, bedient sich das Stuttgarter Tanzprojekt einmal auch einer Szene, in der die Tänzerin hinter die transparenten Leinwände schlüpft und sich dort in neue, als Zeichnungen projizierte Kleider, wie man sie aus Papierbastelbögen für Anziehpuppen kennt, hüllt.

„Ich bin nicht heimatlos. Nur im Ausland“, erkennt Irene schließlich, ehe sie mit einem leeren Koffer in ein neues Leben aufbricht. Das Publikum nimmt eine Fülle akustischer, visueller und gedanklicher Mosaiksteinchen mit nach Hause.

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